artibeau : kunst in bochum - umsonst und draußen

Kreuzblütler (1973, nicht erhalten)

Anatol (Karl-Heinz Herzfeld) (*1931)
1973
Pappelholz

Diese Skulptur ist nur noch in der Erinnerung präsent: Verborgenste Kunst.

1973 schnitzte der Beuys-Schüler Anatol eine hölzerne Sitzgruppe mit vier Stühlen und einem Tisch aus 120-jährigen Schwarzpappel-Stämmen. Er ließ sie nach seiner ersten Ausstellung in Bochum als Leihgabe in der Ruhr-Universität. Die Arbeit stand oberhalb eines Sees im Botanischen Garten.

Die Stühle gestaltete Anatol nach einem Künstler (Joseph Beuys aus Düsseldorf, Europa) einem Techniker (Nazareth aus Kerala, Indien), einem Geschäftsmann (Akawamy aus Tokio, Japan, Asien) und einem Theologen aus Gambia, Afrika. Die Namen der Vier waren auf den Rückenlehnen eingebrannt. Die Vorbilder der „Kreuzblütler“ stammten aus verschiedenen Kontinenten und versinnbildlichten höchst unterschiedliche Lebenswelten.

Im Zug einer Ausstellung, die vom Kunstvereins im November 1973 in der Kunst und Bücherscheune Bochum Querenburg veranstaltet wurde, war Anatol oft in Bochum, um an seinem für die Ausstellung konzipierten Einbaum „Blaues Wunder“ zu arbeiten. Die WAZ berichtete im März 1974: Die Sitzgruppe entstand „damit sich junge Zuschauer keine kalte Sitzfläche auf dem Steinboden holten. ... In der Tischmulde darf sogar Feuer entzündet werden, um die Hände zu wärmen oder Würstchen zu braten.“

Anatol besuchte auch den Botanischen Garten der Ruhr-Universität. Bei einer Gesprächsrunde entstand dann die Idee, die Sitzgruppe Studenten und Bochumern an der Ruhr-Universität als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Der Kreuzblütler wurde an einer besonders schönen Stelle unter Eichenbäumen bei den Teichen aufgestellt. Der Kunstverein vermittelte und übernahm die Kosten für Transport und Aufstellung. Im März 1974 wurde die Installation mit einem Fest der Öffentlichkeit übergeben. Die Leihgabe war zunächst auf ein Jahr geplant und wurde immer weiter verlängert, bis das Kunstwerk schließlich nicht mehr vorhanden war. 1990 waren noch die letzten Reste des verwitternden Holzes erkennbar.

Das Holz der Pappel ist sehr weich und gehört zu den leichtesten unter den einheimischen Laubholzarten. Der Witterung ausgesetzt wie auch unter Wasser ist Pappelholz nur von geringer Dauerhaftigkeit. Dementsprechend wurde die Skulptur von Jahr zu Jahr mehr ein Opfer der Witterung und ist mittlerweile - vollständig zu Humus zersetzt - spurlos verschwunden.

Die Kreuzblüte ist für Anatol auch ein Symbol seiner Heimat:

Als ich 1946 aus meiner Heimat Ostpreußen vertrieben wurde, blühte dort überall das Unkraut Hederich [ein Kreuzblütler] ... Als wir im Zug steckten, kamen wir irgendwann über die Weichsel. Da wußten wir, es geht nach Westen. Ich war damals sechzehn. Mir ging es wie einem herausgerissenen Baum oder einem aus dem Nest geworfenen Vogel. Es war Herbst, da blühte der Hederich, er blühte gelb wie der Raps ...

Anatol wurde als Karl-Heinz Herzfeld am 21. Januar 1931 in Insterburg, Ostpreußen als uneheliches Kind einer sehr jungen Mutter geboren. Sie gab ihn in eine Pflegefamilie ab, wo er als Kind bibelfester Eltern aufwuchs. Sein Pflegevater, den er stets als seinen Vater betrachtete, war überzeugter Sozialdemokrat. Er erlebte den Zweiten Weltkrieg in seiner Heimat Ostpreußen mit all ihren Schrecken. Die Vertreibung führte ihn in den Westen Deutschlands. Dort erlernte er zunächst das Schmiedehandwerk und wurde dann Polizist – er selbst sagt viel lieber „Schutzmann“ – später vor allem mit einem Puppenspiel-Programm in Schulen. Seinen Beruf übte er bis zur Pensionierung aus.

Nebenher studierte er an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf bei Joseph Beuys, der ihn sehr geprägt hat, und bei Carl Wimmenauer (1964-1972). Später (1979-1981) erhielt der Ostpreuße sogar einen Lehrauftrag an „seiner“ Akademie. Seit dieser Zeit lebt und arbeitet er in Düsseldorf und auf der Insel Hombroich in Neuss-Holzheim. Dort hat Anatol, wie sich Herzfeld als Künstler nennt (nach einer Figur aus Tolstois „Krieg und Frieden“), auch eine alte ostpreußische Bauernkate nachgebaut, die ihn – und nicht zuletzt auch die Besucher der Museumsinsel – an das unvergessene Land im Osten erinnert. Das gesamte Areal um dieses Gebäude, mitsamt der auf ihm befindlichen Arbeiten sind Eigentum Anatols. Testamentarisch wurde festgehalten, dass nach dem Tod Anatols das Areal in den Besitz der Stiftung Insel Hombroich übergeht und dieses so zu belassen sei, wie zum Zeitpunkt seines Todes.

Anatol hat einen zutiefst humanen Blick in die Welt. Er sieht die Menschen und was ihnen geschieht. Daraus gestaltet er seine Kunst.

Ehemaliger Standort:
Botanischer Garten
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstraße 150
44801 Bochum

Siehe auch:
Familie (Steinkreis)
Brüder (Kain und Abel)

Kunst an der Ruhr-Universität Bochum:
Evolution (Hanns Holtwiesche)
Keramikwand (Victor Vasarely)
Grand Vitrail Cinetic (Victor Vasarely)
Verkleidungen der Versorgungskerne
Ziegelrelief Universitätsbibliothek (Henryk Dywan)
Schriftzug „Ruhr-Universität“ (Henryk Dywan)
Tor und Doppelwinkel (Friedrich Gräsel)
Wasserrelief Forumsbrunnen (Erich Reusch)
Kreuzblütler (Anatol)
Sandmühle (Günther Uecker)
Toutes Directions (Yaacov Agam)
Metrical Construction (David Rabinowitch)
Trace (James Reineking)
Grande Diagonale (Giuseppe Spagnulo)
Two Open Rectangles Excentric Triangular Section, Variation VII (George Rickey)
Leuchtschriften an der Universitätsbibliothek (Mischa Kuball)
Guernica (Reproduktion)
Graffiti
& so weiter ... (Lawrence Weiner)

Nachlesen:
Wikipedia: Anatol
virtuelles museum moderne nrw: Anatol
Das Ostpreußenblatt: Anatol
RUB: Kunst am Bau
RUB Kunst am Bau: interaktiver Lageplan
Ruhr-Universität: Homepage

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Chronologie 1960-2009

1960  Das Adam Opel AG Werk Bochum I wird gebaut.

1960  Eisen und Stahl haben Hochkonjunktur. Es gibt Vollbeschäftigung im Ruhrgebiet. Zunehmend werden Gastarbeiter eingestellt.

1961  Im Wahlkampf verspricht Willy Brandt erstmals den „blauen Himmel über der Ruhr“. Niemand nimmt das wirklich ernst.

1961  Bochum errichtet die erste geordnete Mülldeponie in Deutschland.

1962  Die Adam Opel AG eröffnet die erste von insgesamt drei Produktionsstätten in Bochum. Die Werke Bochum II/III werden errichtet. Opel schafft bis zu 20.000 Arbeitsplätze.

1963  Der autobahnähnliche Ausbau des Ruhrschnellweg zwischen Essen und Unna wird nach fast zehn Jahren Bauzeit abgeschlossen.

1963  Der Autobestand im Ruhrgebiet hat sich seit 1949 mehr als verzehnfacht .

1964  In der Bundesrepublik wird offiziell der einmillionste Gastarbeiter begrüßt. Er bekommt ein Mofa geschenkt.

1964  Das Zeiss Planetarium Bochum wird eröffnet.

1964  Am Ruhrschnellweg in Harpen wird das Ruhr-Park Einkaufszentrum als zweites in Deutschland eröffnet.

1965  Die Ruhr-Universität Bochum, erste Hochschule im Revier, wird eröffnet.

1966  Das letzte Grubenpferd geht in Rente (22. Juni Tobias, Zeche General Blumenthal, Recklinghausen, Gedenktafel am Bergbaumuseum).

1966  Das Kammerspielhaus am Schauspielhaus Bochum wird eröffnet.

1967  Mit Lothringen schließt die 51. Zechenanlage an der Ruhr.

1968/69  Die Ruhrkohle AG, RAG, wird gegründet.

1971  Der VFL Bochum steigt auf in die erste Bundesliga.

1972  Peter Zadek wird Intendant am Schauspielhaus Bochum.

1973  Die letzte Zeche in Bochum wird stillgelegt (Hannover/Hannibal)

1973  Die erste Ölkrise gipfelt in Sonntagsfahrverboten.

1973  Es gibt einen Anwerbestopp für Gastarbeiter außerhalb der EG.

1974  Erste S-Bahnen fahren im Revier (S1, S3)

1976  Erste Tempo-30 Zone in Bochum auf Betreiben einer Bürgerinitiative.

1977  Terminal von Richard Serra auf der documenta 6 in Kassel. Von Bochum gekauft, 1979 aufgestellt.

1979  Ruhrstadion (Rewirpower-Stadion) eröffnet.

1979  Claus Peymann wird als Nachfolger von Peter Zadek für sieben Jahre Intendant in Bochum.

1980  Der Kemnader Stausee wird freigegeben.

1980  Der RVR veranstaltet den ersten „Tag des Radfahrens“ im Revier.

1983  Hausbesetzungen im Heusnerviertel gegen den Abriss für den Außenring.

1984  Das Album „4630 Bochum“ macht Herbert Grönemeyer (und Bochum) zum Star.

1986  Erstmals „Bochum Total“. Das Festival entwickelt sich zum größten kostenlosen Rock-Pop-Festival in Europa.

1988  Starlight Express startet in Bochum.

1989  Die U35 zwischen Herne und Bochum Hbf ist fertig. Länge: 10 km. Bauzeit: 20 Jahre. Kosten: 800 Mio. DM.

1993  Die „Unabsteigbaren“ vom Vfl Bochum müssen erstmals in die Zweite Liga. Der Vfl wird zur „Fahrstuhlmannschaft“.

1995  Das Deponie-Block-Heizkraftwerk an der Zentraldeponie Kornharpen geht ans Netz .

1999  Nach dreiundvierzig Jahren verliert die SPD in Bochum die absolute Mehrheit. Bochum wird rot-grün.

2002  RuhrCongress Bochum mit Renaissance Bochum Hotel fertiggestellt.

2002  Erste Ruhrtriennale (2002-2004) unter Gründungsintendant Gerard Mortier.

2003  Eröffnung der revitalisierten Jahrhunderthalle Bochum, ein Stück „Transformationsarchitektur“.

2004  Bochum ist seit 100 Jahren Großstadt.

2007  Einweihung der neuen Synagoge.

2008  Im Januar wird die Schließung des Nokia-Werks Bochum bekannt gegeben, es wird im Mai geschlossen.

2009  Opel steht auf der Kippe. 1500 von 6000 Arbeitsplätzen sind in Gefahr.

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